60 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil:Nostra aetate – eine politisch-theologische Relecture

Der kürzeste Text des Konzils, aber zugleich der erste, mit dem je ein Konzil seine Haltung zu nichtchristlichen Religionen prinzipiell dargelegt hat. Nostra aetate: 60 Jahre sind im Oktober dieses Jahres vergangen, seit das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung „über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ verabschiedete. Ein Dokument, durch das die katholische Kirche mit Menschen aus anderen Religionen in Dialog kommen möchte.
Die Konferenz ging den Fragen nach, welche Aktualität und Vitalität Nostra aetate heute noch besitzt, und legte für eine aktuelle Lektüre den Schwerpunkt auf das Judentum.
Sie fand im Kontext der Ereignisse in Israel und Gaza seit dem 7. Oktober 2023 statt, angesichts zunehmender antisemitischer Vorfälle in Deutschland und der Tatsache, dass die öffentliche Beteiligung am jüdisch-christlichen Dialog heute abnimmt.
Judith Gruber: Perspektivenwechsel
Im einleitenden Vortrag argumentierte Judith Gruber (Leuven) für die Notwendigkeit, Nostra aetate sechzig Jahre nach Erscheinen des Dokuments im Rahmen von politischer Theologie neu zu lesen. Ihre Ausführungen zeigten, dass eine Analyse aus der Perspektive politischer Theologie die enge Verflechtung des jüdisch-christlichen Dialogs mit Gewalt-, Macht- und Erinnerungsgeschichten sichtbar werden lässt. Dabei wurde deutlich, dass das Dokument zwar Befreiungspotenziale eröffnet, zugleich aber hegemoniale Strukturen fortschreibt, die bis in die Gegenwart wirken.
Die politischen Zuspitzungen seit dem 7. Oktober 2023 (kurz: 10/7) verdeutlichen zudem, dass Dialogpraxis noch Theologie außerhalb dieser Verstrickungen stehen. Daraus entstehen leitende Fragen: Unter welchen Bedingungen kann solcher Dialog heute stattfinden, welche Formen stabilisieren Machtverhältnisse – und welche neuen Perspektiven werden möglich, wenn seine Ambivalenzen wirklich ernst genommen werden?
Jehoschua Ahrens und Gregor Maria Hoff zur Rezeption von Nostra aetate nach 10/7: politisch-theologische Aspekte

Noch vor Anbruch des Shabbats gelang eine Online-Schaltung zu Jehoschua Ahrens, Oberrabbiner von Salzburg, Co-Präsident der Jüdisch-Katholischen Gesprächskommission der Schweiz und Gemeinderabbiner in Bern. Er formulierte aus seiner Sicht jüdische Perspektiven auf das Verhältnis zur katholischen Kirche. Insbesondere ist hier die Solidarität mit den Glaubensgeschwistern zu nennen, die sich in den Situationen zeigen müsste, in denen jüdische Gemeinden im europäischen Raum angefeindet oder angegriffen werden, die sie aber meist vermissen lassen.
Umgekehrt trug Gregor Maria Hoff (Salzburg) die Eindrücke aus der Feier des 60. Geburtstags von Nostra aetate in Rom ein, die erkennen ließen, dass der Antisemitismus auch in den eigenen Reihen der katholischen Kirche immer noch eine Realität in der Haltung einzelner ist und bestätigt, dass theologisch verbrämter Antijudaismus innerkirchlich nicht wirklich überwunden ist.
Benedikt Kranemann: Leerstellen und Problemüberhänge von Nostra aetate - eine Fallstudie zur Liturgie
Angesichts des wieder aufflammenden Antisemitismus nehme Nostra aetate die Liturgie erneut in die Pflicht, so Benedikt Kranemann (Erfurt). Die Israeltheologie der Liturgie habe sich verändert, das zeige u. a. die neu formulierte Karfreitagsfürbitte. Aber, so Kranemann, "werden die Impulse des Konzilstextes noch wahrgenommen?" Gerade Liturgie entfalte eine Wirkung auf Glauben und Mentalität, sie sei performativ.
Die Kirche habe sich im Konzil auf die Geschwisterlichkeit zum Judentum besonnen. Sie müsse sich in der Liturgie gegen antijüdische Ressentiments wappnen. Problematische Aktualisierungen der Karfreitagsfürbitte für die Juden, die von Papst Benedikt XVI. vorgenommene Überarbeitung dieser Bitte, die Akzeptanz traditionalistischer Gruppen mit einer Liturgie vor Nostra aetate, die Nachahmung jüdischer Sederfeiern am Gründonnerstag seien bedenkliche Zeichen.
Das Konzilsdokument fordere zur Aufarbeitung einer Geschichte des Versagens und der Suche nach neuen Wegen des Miteinanders auf. Eine vertiefte Hermeneutik im Umgang mit dem pluralen Judentum sei notwendig.
Julia Feldbauer: Das Land Israel als Spannungsfeld im jüdisch-katholischen Dialog
Julia Feldbauer (Salzburg) griff in ihrem Vortrag eine besonders herausragende Frage im jüdisch-katholischen Dialog auf: Welche theologische Signifikanz besitzt der Topos des Landes und lässt sich eine theologische Perspektive auf die Bedeutung des Staates Israel entwickeln? Nach 10/7 lädt sich die Frage politisch-theologisch auf. Sie führt aber auch zurück in katholische Auseinandersetzungen, zuletzt um den Communio-Aufsatz von Benedikt XVI. bzw. Joseph Ratzinger, in dem er eine theologische Interpretation des Staates Israel kritisch betrachtete. Jüdische Reaktionen, so konnte Feldbauer zeigen, markieren demgegenüber, dass der Staat Israel aus unterschiedlichen Gründen nach der Shoa mehr als eine nur politische Dimension besitzt – gerade in seiner Bedeutung für Juden weltweit in der Diaspora.
Um diese Bedeutung zu bestimmen, führte Feldbauer die Akteur-Netzwerk-Theorie des Soziologen Bruno Latour ein. Als Akteure kommen nicht nur Menschen, sondern auch Objekte in Betracht. Sie wirken auf Diskurse formativ ein. Insofern kommt dem Land Israel eine religiöse Akteurschaft zu, die theologisch in Rechnung zu stellen ist: als Wirklichkeit. Für den jüdisch-katholischen Dialog ergibt sich damit die Herausforderung, über Nostra aetate und die Leerstelle des Landes in diesem Dokument hinaus zu denken.
Antonia Dölle: Praxisbezogene Relecture aus der Perspektive heutiger Erinnerungskultur
Im Anschluss daran fragte Antonia Dölle (Erfurt), welche Impulse das Dokument Nostra aetate sechzig Jahre nach seiner Verabschiedung für gegenwärtige Erinnerungskulturen bieten kann. Sie zeigte, dass es als Reaktion der Kirche auf die Shoa zu lesen ist: ein Bekenntnis gegen Hass, Verfolgung und Antisemitismus, das aber zugleich die eigene Schuldgeschichte verschweigt und den kirchlichen Antijudaismus ausblendet, der den Nährboden für den nationalsozialistischen Rassenantisemitismus bereitet hat.
Angesichts der Ambivalenzen und Transformationsprozesse heutiger Erinnerungskulturen, in der symbolische Rituale zunehmend verbindliches Engagement ersetzen, die Stimmen der Zeitzeug:innen schwinden und antisemitische Gewalt zunimmt, plädierte Dölle für eine klare kirchliche Verantwortungsübernahme. Will die Kirche ihren Auftrag aus Nostra aetate ernst nehmen, müsse sich dies in einer Auseinandersetzung mit dem inhärenten christlichen Antisemitismus und Antijudaismus, einer aktiven und ganzheitlichen Beteiligung an Gedenkinitiativen sowie einer uneingeschränkten Solidarität mit dem Staat Israel zeigen.
Thorsten Karbach und Sigrid Rettenbacher: Tagungsbeobachtung
Die Tagungseinheiten wurden jeweils zusammengefasst, reflektiert und weiterführend eingeordnet von der Tagungsbeobachtung durch Thorsten Karbach, Pressesprecher der RWTH Aachen University, der den Konflikt nach 10/7 vor der eigenen Bürotür, aber auch bis in private Kontakte hinein spürbar miterlebte, sowie Dr. Sigrid Rettenbacher, Fundamentaltheologin an der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz sowie an der University of Portland.
Was ist denn da gescheitert in der Erinnerungskultur, dass das Wissen über den Holocaust in diesem Maße abnimmt?
Anti-Antisemitismus darf nicht islamfeindlich gewendet werden.
Sigrid Rettenbacher
Erinnerungskultur ist keine "Happeningkultur". Der Autor Max Czollek hat seine Analyse der deutschen Erinnerungskultur unter dem Titel "Versöhnungstheater" verfasst. Darauf reagiere ich. Versöhnung darf kein Schlusspunkt sein, den sich laut Statistik viele wünschen.
Angesichts eines "digitalen Furors" im Kontext der Nahostproblematik, der auf die Rezipienten wirkt, stehen alle Menschen in der Verantwortung, sich zu fragen: Wie wirkt mein Handeln, wie wirken schon meine Worte?
Thorsten Karbach
Theology in religious, cultural and political Processes of Transformation
Die Tagung fand statt in Kooperation mit der European Graduate School "Theology in religious, cultural and political Processes of Transformation".
Stimmen der Teilnehmenden

Die Tagung zu Nostra aetate untersuchte, inwiefern sich das Konzilsschreiben gerade angesichts der aktuellen politischen Lage aktualisieren lässt. Die katholisch-theologischen Überlegungen etwa zur Erinnerungskultur, 10/7 und dem Land Israel wurden dabei auch um eine jüdisch-rabbinische Perspektive ergänzt. Die Tagung führte dabei eindrücklich vor Augen, dass auch die Erinnerung an die eigene katholische Schuldgeschichte nicht abgeschlossen sein darf, dass zu schweigen katholisch keine Option sein darf.
Johanna Voithofer, Salzburg
Die Erinnerung an die eigene katholische Schuldgeschichte ist nicht abgeschlossen.
N.N.
Den Spannungen um die Schuldgeschichte der Kirchen gegenüber dem Judentum ist nicht zu entkommen, der Rahmen des Diskurses ist nie ein unschuldiger.
N.N.
Als jemand, der nicht selbst zum Thema der Tagung arbeitet, sondern über andere Kontexte mit hineingenommen wurde, konnte ich mich auf die Vorträge relativ erwartungsfrei einlassen. Prof.in Judith Gruber eröffnete die Reihe der Vortragenden, indem sie den interreligiösen Dialog der katholischen Kirche in ein Spannungsfeld einordnete – gerade auch in Bezug auf das Judentum und die mit ihm verbundene Schuldgeschichte der Kirche(n). Diesen Spannungen ist nicht zu entkommen, denn der Rahmen des Diskurses ist nie ein unschuldiger. Besonders hängen geblieben ist mir in diesem Bezug die Forderung nach einem (metaphorischem) Raum der Untröstlichkeit.
Kritisch anmerken möchte ich (auch hinsichtlich der Frage, ob diese Tagung ein solcher Raum sein konnte), dass die Meinungen der Teilnehmenden nicht sehr weit auseinandergingen und es in diesem, wie gesagt, spannungsgeladenen Rahmen keine kontroversen Auseinandersetzungen gab, da keine gegensätzlichen Standpunkte vertreten wurden (was gewiss ebenso positiv beurteilt werden sollte). Wie also das in einem Vortrag hervorgehobene elfte Gebot Turskis, "Du sollst nicht gleichgültig sein!", zu verstehen sei, wäre in einem mehr pluralen Auditorium wohl nicht so eindeutig gewesen.
Moritz Huber, Salzburg